Münchner Missionstag 2021 / Vortrag Prof. Scherr

Wie können wir die Krise in Relation zu anderen Krisen einordnen?

  • Seit über 50 Jahren leben wir mit dem Gefühl einer stetig wachsenden Sicherheit.
  • Dabei gab es immer wieder größere und kleinere Krisen und Umbrüche, z.B.
    - plötzlich auftretendes Problem der Arbeitslosigkeit Anfang der 70er Jahre, 1.000.000 Arbeitslose erschienen als unglaublich hohe Zahl;
    - Angst vor einem Atomkrieg durch atomare Aufrüstung mit Mittelstreckenraketen in den 80er Jahren; die Angst hat sich gelegt, obwohl die Nachrüstung nicht verhindert wurde;
    - Erdölkrise mit Fahrverboten 1973;
    - Finanzkrise 2008 mit erheblichen Verlusten der Banken;
    - Zustrom an Flüchtlingen 2015.
  • Die Krisen wurden gemeistert. Die Erinnerungen daran verblassen und verschwinden aus dem Bewusstsein.
  • Generell entwickelte sich nach dem Ende des Weltkriegs die vorherrschende Überzeugung,
    dass es immer besser wird: „Unsere Kinder werden es einmal besser haben.“ Tendenziell ist dieses Denken inzwischen einer eher pessimistischen Sicht gewichen.
  • In den 70er und 80er Jahren gab es die Idee der nachholenden Entwicklung. Man glaubte, dass das Niveau der westlichen Länder (Wohlstand, Demokratie) weltweiter Standard wird. Das glaubt man heute nicht mehr.
  • Seit 2015 wird Afrika weniger als Ort wahrgenommen, der entwickelt werden muss, sondern vielmehr als Bedrohung für Europa. Damit einhergehend entwickeln sich in Europa entmenschlichende Tendenzen.
  • Afrikaner werden sich wohl vermehrt an China orientieren.

Was ist das Besondere der Corona-Krise?

  • Wir wähnten uns sicher vor Infektionskrankheiten. Ebola oder Malaria sind afrikanische Probleme, die es bei uns nicht gibt.
  • Jetzt erleben wir eine Krise. Das Vertrauen in unsere Fähigkeiten wurde erschüttert. Der Gewissheit, dass alles besser wird weicht das Gefühl, dass die Zukunft offen ist.
  • In Krisen sind Phänomene wir die Corona-Leugner normal. Erstaunlich ist das Ausmaß.
  • Anders als bei der Finanzkrise oder der Flüchtlingskrise sind diesmal jeder einzelne betroffen. Das Alltagsleben ändert sich.
    Auf einen nicht mehr in gewohnter Weise funktionierenden Alltag sind wir (im Gegensatz zu den Menschen in vielen anderen Ländern der Erde) nicht eingestellt.
  • Corona zeigt, dass Staatsgrenzen nicht mehr funktionieren, wir sind keine geschlossene Gesellschaft. Bislang profitierten wir nahezu uneingeschränkt von der Globalisierung. Unsere Wirtschaft lebt von den Exporten, wir genießen Urlaube in fernen Ländern.
  • Nun erleben wir mit der Einschleppung des Virus auch die Schattenseiten der Globalisierung. Wir lernen, dass Deutschland nicht immer auf der Gewinnerseite ist.
  • Anmerkung: Bei gravierenden Krisen werden immer einfache Lösungen gesucht.

Wie gewinnen wir nach dem Ende von Corona eine Perspektive mit Rückkehr zur Normalität?

  • Vorbemerkung: Im internationalen Vergleich musste Deutschland weniger harte Maßnahmen ergreifen.
  • In der 1. Phase wurde auf ganz harte Maßnahmen verzichtet. Stattdessen wurde an die Verantwortung der Bürger appelliert. Es gelang vergleichsweise gut, die Bevölkerung mitzunehmen.
  • Ab Sommer setzten sich wirtschaftliche Interessen durch, dadurch endete die positive Phase.
  • In Krisenzeiten wächst das nationalistische Denken. Denn die Bewältigung der Krise wird als Aufgabe des Staates (und nicht etwa als Aufgabe der Kirche oder anderen) gesehen. Verantwortung und Zuständigkeit wurde zunächst nur für Deutsche empfunden. Erst später wurden auch Kranke aus anderen Ländern behandelt.
  • Zudem erfordert ein Krisenmanagement mehr Autorität. Demokratische Regeln werden außer Kraft gesetzt. Für langwierige Diskussionen ist kein Raum. Es stellt sich die Frage, ob es dazu eine Alternative gibt.
  • Umso wichtiger ist eine Rückkehr zur demokratischen Mitbestimmung und zur Wahrung aller Grundrechte nach der Krise.
  • Anmerkung: Autoritäre Staaten wie China haben in der Krise Vorteile. Das kann trotzdem kein Modell für uns sein.


Impulse aus den Kleingruppen und der Diskussion:

  • Die perfekte Normalität bei uns macht uns empfindlich. Plötzlich waren wir anderen, vermeintlich weniger entwickelten Ländern gleichgestellt.
  • Welche Rolle spielt Gott? Vertrauen wir ihm?
    Empirisch belegbar ist, dass Menschen mit Glauben Krisen besser bewältigen können.
  • Kritik und Hinterfragen muss auch in Krisen zulässig bleiben – solange die Diskussion rational nachvollziehbar bleibt.
  • In Krisensituationen ist es normal, die Realität in einem gewissen Grad zu leugnen. Das gehört zur natürlichen Abwehr und zur Problemreduktion, damit man den Alltag noch bewältigen kann. Erstaunlich ist die Zahl der radikalen Leugner. Wie gehen wir mit ihnen in der Zukunft um?
  • Die soziale Gerechtigkeit ist (zu) wenig im Blick. Die Auswirkungen der Corona-Krise hängen sehr vom Vermögen und dem Bildungsstand ab.
  • Je nach politischer Überzeugung werden am Ende der Krise die Schlussfolgerungen sehr verschieden und zum Teil auch widersprüchlich sein. Z.B.
    - Mehr Raum für die Natur ist nötig, um die Gefahr zu reduzieren, dass Viren vom Tier zum Mensch überspringen.
    - Mit mehr Technik lassen sich auch Epidemien besser in den Griff bekommen. Wirtschaft und Wissenschaft muss entsprechend gefördert werden.
  • Wir müssen achten, dass (bei uns wie in Tansania und anderen Ländern) autoritäre Staatsformen nach der Krise nicht als überzeugendere Lösungen gesehen werden.
  • Die Vergangenheit lehrt dabei: Ohne ausreichenden Wohlstand für alle ist Demokratie und Liberalismus in Deutschland gefährdet.


Zwei Links

von Prof. Scherr zu Artikeln von ihm:
https://link.springer.com/article/10.1007/s12054-020-00285-4
https://www.bpb.de/politik/innenpolitik/coronavirus/309964/diskriminierung